Dreyfus, Zola und die Graphologen. Vom Expertenversagen zum Intellektuellensieg? = Dreyfus, Zola, and the Graphologists. From the Failure of Experts to the Victory of Intellectuals?

Hirschi, Caspar

In: Historische Zeitschrift, 2016, vol. 303, no. 3, p. 705-747

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    Summary
    Die Dreyfus-Affäre gilt gemeinhin als Sieg der Wissenschaft und Intelligenz über die Armee und Justiz. Dieser Aufsatz stellt diese Sicht in Frage und entwickelt eine neue Erklärung für die Rolle der Wissenschaft und für den Aufstieg der Intellektuellen im Verlauf des Skandals. Er untersucht die Expertisen, die Wissenschaftler zum Hauptbeweisstück des Spionagefalls - einem Begleitschreiben zu Geheimdokumenten - abgegeben haben. Die Analyse zeigt, dass es allen Experten in den ersten Jahren des Skandals an einer bewährten Methode fehlte, um die Frage nach der Autorschaft des Schreibens zu beantworten. Dieses Manko hielt aber kaum einen davon ab, den eigenen Befund als unumstößliche Gewissheit zu präsentieren - unabhängig davon, ob er Dreyfus für schuldig oder unschuldig hielt. So kam es auf beiden Seiten zu Fehlurteilen im Gewand von Tatsachenbehauptungen. Verantwortlich dafür waren nicht nur politischer Druck und ideologische Voreingenommenheit, sondern auch das positivistische Wissenschaftsideal, das die damalige Forschungskultur von der Physik bis zur Philologie prägte. Im Feld der Handschriftenanalyse hatte der Positivismus den Aufstieg einer neuen Wissenschaft begünstigt, die methodische Exaktheit versprach: der Graphologie. In den ersten Jahren der Affäre verfassten Graphologen vielbeachtete Gutachten für und gegen Dreyfus und verunmöglichten es methodisch konservativeren Handschriftenexperten, sich mit dem Prinzip der epistemischen Vorsicht Gehör zu verschaffen. Zum Zeitpunkt, als Émile Zola mit der Publikation von "J'Accuse...!" die Dreyfus-Affäre zum Eskalieren brachte, hatten die Graphologen allerdings ihr Pulver schon verschossen. Die Rolle des Intellektuellen, wie sie Zolas Anhänger in Auseinandersetzung mit den Antidreyfusards entwickelten, kann als eine Kompensationsfigur für das kollektive Expertenversagen verstanden werden. Sie eröffnete die Möglichkeit, mit moralischem Furor die methodischen Blößen wettzumachen, die sich Wissenschaftler in der Expertenrolle eingehandelt hatten. Allerdings gerieten die Dreyfusards im Intellektuellengewand selbst in epistemische Untiefen - dann nämlich, wenn sie Moral und Methode als zwei Seiten derselben Medaille darstellten.